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Andere Zeiten

1961 war ich 6 Jahre alt. In die Schule kam ich erst ein Jahr später - weil ich noch kein Hochdeutsch konnte und es auch keinen Kindergarten gab wo man das hätte lernen können. Eine Krippe, wie sie in den vergangen Jahren an vielen Orten eingerichtet wurde gab es schon gar nicht. Deshalb packte ich den Schulreifetest nicht. Dafür hatte ich dann mehr als genug Zeit zwischen Hühnern, Kühen und Pferden in dem oberhessischen Dorf Hachborn zu spielen -  in aller Freiheit, ungesichert und meist ohne Aufsicht.  Die Frauen trugen zu dieser Zeit im Dorf noch Kopftücher – jedenfalls die anständigen, und die Männer hatten einen Hut.
Der Stolz meines Vaters war ein Hanomag mit 24 PS und Soziussitz. Da konnte ich direkt neben ihm mit auf den Acker  fahren und wurde als Kind schon eingewiesen in meine zukünftige Aufgabe als Bauer und Hoferbe. Die Dinge waren klar geregelt.
Als ich 8 Jahre später konfirmiert wurde, sah die Welt schon ganz anders aus. Mein gesamtes Konfirmationsgeld habe ich im Sommer von 69 zum Entsetzen meiner Großeltern für ein Tonbandgerät ausgegeben.  Das war auch im Rückblick noch eine sehr gute Investition. Das Gerät steht heute noch im Regal meiner Heiligtümer. Denn Musik lag in der Luft, neue Musik – im „summer of 69“. Um die einzufangen und mit entsprechender  Lautstärke wieder  abzuspielen brauchte man ein Tonbandgerät. „Affenmusik“ nannten es die Alten. Es gab immer mal wieder Ärger wegen der Lautstärke. Für uns Jugendlich aber war es Evangelium, Lebenskraft für eine neue Welt.
Diese allerdings kollidierte manchmal kräftig mit der alten.
Die alte Welt begegnete mir damals  in Gestalt von Mijes Hannes – so hieß er und war ein Bauer mit altem Bauernhof. Er war der Letzte der noch mit dem Pferdefuhrwerk auf den Acker zog. Gemächlich, im Schritttempo und mit großer Seelenruhe.
Nach der Konfirmation begegnete ich ihm sonntags im Gottesdienst. Erst nach der Konfirmation durfte man nach oben, auf die Empore wo die Männer saßen.
Mijes Hannes hatte dort seinen festen Platz. Er war immer da, auch wenn er häufig während der Predigt einschlief, aber das tat der Frömmigkeit keinen Abbruch. Damals schlief man halt noch in der Kirche ein und nicht vorm Fernseher. Man kam auch nicht nur wegen der Predigt, sondern vielmehr wegen der Gemeinschaft. Bekanntmachungen, Dorfnachrichten, Kindstaufe, Hochzeit, Beerdigung. Damit wir informiert waren, musste aus jeder Familie sonntags einer in die Kirche, und manchmal war ich eben dran.
Die Gespräche danach waren häufig ganz interessant: alle Dorfgeschichten und die Neuheiten in der Welt und wie sie einzuordnen seien.  
Mijes Hannes war ein freundlicher Mensch und erzählte gerne. Die moderne Welt war ihm fremd. „Am schlimmsten“ sagte er „sind die Ataisten“.  „Die was?“ fragte ich zurück. Er kannte das Wort nur als eifriger Leser des Kasseler Sonntagsblattes. So wie es da geschrieben stand sprach er es aus: die Ataisten. Ach ja, die Atheisten - die Gottesleugner.  
Doch wenigsten  in der Kirche war noch alles in Ordnung - bis man ihm in einer Nacht den Apfelbaum umsägte. Denn just in jenem Sommer 1969 war der alte Pfarrer gegangen und einer von jenen jungen modernen Theologen gekommen, bei denen er Zweifel hatte, ob die überhaupt  noch den richtigen Glauben haben.
„Es kommen auch noch mal andere Zeiten“, war sein Lieblingsspruch. Zeiten, wo all das moderne Zeug wieder verschwindet. Wo man wieder mit Pferden Landwirtschaft macht und auch die jungen Frauen wieder die alte Tracht oder zumindest ein Kopftuch tragen.
Er hatte als letzter Pferdebauer notgedrungen auch noch den Führerschein gemacht und einen „Bulldog“ gekauft. Damit fuhr er dann durchs Dorf in einem Tempo wie andernorts beim Karnvalsumzug. Er vorneweg mit lautem Motor im 1. Gang, hinter ihm Autos, andere Bauern mit ihren Traktoren, Lastwagen und Omnibus, Mopeds und Motorräder und das manchmal in langer Schlange. Denn Mijes Hannes fuhr mit seinem neuen Traktor auch nicht schneller als mit dem alten Pferdefuhrwerk. Sollte die moderne mobile Welt hinter ihm doch hupen so viel sie wollte - an ihm kam keiner vorbei.
Weil Mijes Hannes ein freundlicher Mensch war grüßte er alle, die er am Straßenrand sah. Sie grüßten ihn freundlich zurück und dachten sich ihr  Teil.
Nur für uns Jungen, die wir als Bauernsöhne mit 16 auch den Führerschein für Traktor und Moped hatten und nach dem Pflügen abends noch in die Disco wollten - für uns war Mijes Hannes der personifizierte Zeitverlust. Hinter Mijes Hannes fahren zu müssen war eine Qual und vorbei konnte man auch nicht, weil die Straße zu eng und zu unübersichtlich war.

„Es kommen auch noch mal andere Zeiten“ – war sein Spruch. So  kam das Jahr 1971. Als man wegen der Mähdrescher die Apfelbäume am Feldrand nach und nach abholzte, da hat er als guter lutherischer Kirchgänger noch sein Apfelbäumchen gepflanzt. Doch dann haben sie ihm den Apfelbaum umgesägt und zwar ausgerechnet wegen Kirche und Religion.
Das kam so: Natürlich war Mijes Hannes auch im Kirchenvorstand. Wenigstens in der Kirche sollte doch alles so bleiben wie es war. Nun hatte aber im Jahre 1969 ein neuer Pfarrer den alten abgelöst. Und der neue war einer von jenen jungen, modernen Theologen, die im Weltbild von Mijes Hannes gleich nach den Atheisten kamen.
Als dann nach zwei Jahren der Kirchenvorstand über seine Festanstellung entscheiden sollte passierte es: In den drei Dörfern, die der Pfarrer zu versorgen hatte, war eines auf der Seite des alten Pfarrers und fuhr regelmäßig zu dem in den Gottesdienst an dessen neuer Wirkungsstätte. In dem anderen Dorf hatte der junge Pfarrer eine Mehrheit und das dritte war gespalten.
So ging auch die Abstimmung aus: Mit der Mehrheit von einer einzigen Stimme entschied sich der Kirchenvorstand gegen den neuen Pfarrer. Der musste also die Pfarrstelle räumen und das Dorf verlassen. Die Wahl war zwar geheim, aber jeder wusste, diese eine Stimme im Kirchenvorstand, die den Ausschlag gab, das war die von Mijes Hannes.
Eine Woche später lag dann der Apfelbaum um. Einfach umgesägt in einer Nacht. Ein Mord wäre kaum schlimmer gewesen, als dieser Frevel. Luthers sprichwörtliches Apfelbäumchen -  einer modernen Säge zum Opfer gefallen.
Auch er selbst fiel einem neuen Gesetz der Landeskirche zum Opfer. Keiner über 70 durfte mehr für den Kirchenvorstand kandidieren. Auch in der Kirche wollte man die dringend nötigen Veränderungen nicht ständig durch alte Pferdefuhrwerke blockiert haben. Da half auch alles Klagen nichts.
„Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Vielleicht  hätte auch Mijes Hannes die Welt etwas anders gesehen, hätte er selber Kinder gehabt. Vielleicht wäre darin ein wichtiger Impuls gewesen, sich auf die tiefgreifenden Veränderungen einzulassen und mit der nächsten Generation die neue Welt zu gestalten. Vielleicht  wäre das Klammern- und Beharren dann eher der Zuversicht gewichen, dass auch die neue, moderne Welt keine gottlose ist.
Auch wenn man jetzt nicht mehr so viel vom Herrgott spricht wie in jenen Zeiten, so kehrt derselbe Gott doch als die Himmelsmacht der Liebe in die Sehnsüchte und Träume der nächsten Generation zurück. Das Mysterium der Schöpfung, das Geheimnis der Liebe - manchmal auch das damit verbundene „ganz normale Chaos“, mit den guten Augen christlichen Glaubens  ist der dreieinige Gott so wirklich wie eh und je, manchmal wie ein Kind in Windel gewickelt, aber damit auch entwicklungsfähig.

Auch der Hof von Mijes Hannes hat heute seinen Platz in der neuen Welt gefunden: Als schön restauriertes Fachwerkschmuckstück im alten Ortskern. Es ist zwar kein Stall mehr für Kühe und Pferde aber doch Wohnraum für Menschen und der Christbaum darin erinnert auf seine Art an den Apfelbaum im Paradiesesgarten.
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