Erntedank mit Mijes Hannes

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Erntedank mit Mijes Hannes

kloster-hachborn.de
Veröffentlicht von Helmut G. Müller in Geschichten · 26 September 2011
 
 
„Und wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, so würde ich heute noch mein Apfelbäumchen pflanzen.“  (Martin Luther)
 
 Vor 50 Jahren  war ich 6 Jahre alt und verbrachte meine Kindheit unter Apfelbäumen. In die Schule kam ich erst ein Jahr später.  Ich konnte noch kein Hochdeutsch.  Einen Kindergarten , wo ich das hätte lernen können, gab es auch nicht. So fiel ich durch den Schulreifetest. Dafür aber hatte ich nun mehr als genug  Zeit zwischen Hühnern, Kühen und Pferden in dem oberhessischen Dorf  zu spielen -  in aller Freiheit, ungesichert  und meist  ohne Aufsicht.  Die Frauen trugen zu dieser Zeit im Dorf noch Kopftücher und andere Bedeckungen. Die Männer hatten einen Hut.
 Der Stolz meines Vaters war ein Hanomag mit 24 PS und Soziussitz. Da konnte ich direkt neben ihm mit auf den Acker  fahren. So wurde ich als Kind schon eingewiesen in meine zukünftige Aufgabe als Bauer und Hoferbe. Die Dinge waren klar geregelt.
 Als ich 8 Jahre später konfirmiert wurde sah die Welt schon ganz anders aus. Mein gesamtes Konfirmationsgeld habe ich im Sommer von 69 zum Entsetzen meiner Großmutter für ein Tonbandgerät ausgegeben.  Das war  auch im Rückblick noch eine sehr gute Investition. Das Gerät steht heute noch im Regal meiner Heiligtümer. Denn Musik lag in der Luft, neue Musik. Um die einzufangen und mit entsprechender  Lautstärke wieder abzuspielen brauchte man halt ein Tonbandgerät. „Affenmusik“ nannten es die Alten. Es gab immer mal wieder Ärger wegen der Lautstärke. Für uns Jugendliche aber war es Evangelium, Lebenskraft für eine neue Welt. Manchmal  kollidierte diese kräftig mit der alten.
 
Die alte Welt begenete mir damals exemplarisch in Gestalt von Mijes Hannes. Der war ein Bauer vom alten Schlag mit altem Bauernhof. Er war der Letzte, der noch mit dem Pferdefuhrwerk auf den Acker zog. Gemächlich, im Schritttempo und mit großer Seelenruhe.
 Nach der Konfirmation traf ich ihn sonntags im Gottesdienst – wenn mein Vater meinte, es wäre Zeit mal wieder hin zu gehen. Erst nach der Konfirmation durfte man nach oben, auf die Empore wo die Männer saßen, und da saß auch er.
 Mijes Hannes hatte dort seinen festen Platz. Er war immer da, auch wenn er öfters während der Predigt einschlief. Er hatte schließlich eine anstrengende Woche hinter sich, mit Arbeit von Montag in der Frühe bis Samstags spätabends und am Sonntagmorgen halt noch das Vieh füttern, damit er rechtzeitig um 9.00 Uhr in der Kirche war. Die meisten kamen auch damals weniger wegen der Predigt als wegen der Gemeinschaft: Bekanntmachungen, Dorfnachrichten, Kindstaufe, Hochzeit, Beerdigung, Missionsfest, was wird an Kuchen gebraucht und vieles mehr: Damit wir informiert waren, musste aus jeder Familie sonntags einer in der Kirche sein, und manchmal war ich eben dran.
Die Gespräche danach waren dabei durchaus interessant: alte Dorfgeschichten und die Neuheiten in der Welt und wie sie einzuordnen seien.  
Weil Mijes Hannes ein freundlicher Mensch war und gerne erzählte standen wir manchmal zusammen. Die moderne Welt war ihm fremd. „Am schlimmsten“, sagte er, „sind die Ataisten“.  „Die was?“ fragte ich zurück. Er meinte die Atheisten, aber er kannte das Wort nur als eifriger Leser des Kasseler Sonntagsblattes. So wie es da geschrieben stand, sprach er es aus: die Ataisten - die Gottesleugner,  jene, welche die Dinge nicht  mehr so glaubten, wie sie in der Bibel geschrieben standen.
 
Doch  wenigsten  in der Kirche war noch alles in Ordnung, bis man ihm in einer Nacht den Apfelbaum umsägte, und das kam so: In jenem Sommer 1969, ein paar Monate noch meiner Konfirmation, war der alte Pfarrer gegangen und einer von jenen jungen modernen Theologen gekommen, bei denen er Zweifel hatte, ob die überhaupt  noch den richtigen Glauben haben.
„Es kommen auch noch mal andere Zeiten“, war sein Lieblingsspruch. Zeiten, wo all das moderne Zeug wieder verschwindet. Wo man wieder mit Pferden Landwirtschaft macht und auch die jungen Frauen wieder den Kopf bedeckt haben. Doch statt der anderen Zeiten  kam das Jahr 1971.
 Er hatte als letzter Pferdebauer notgedrungen doch noch den Führerschein gemacht.  Er hatte einen „Bulldog“ (Traktor) gekauft, was im Dorf als kleine Sensation gehandelt wurde. Mit seinem Schlepper fuhr er dann durchs Dorf in einem Tempo wie bei unserem Kerbfestzug oder wie der Papst im Papamobil: Er vorneweg mit lautem Motor im 1. Gang, hinter ihm Autos, andere Bauern mit ihren Traktoren, Lastwagen und Omnibus, Mopeds und Motorräder, und das manchmal in langer Schlange. Denn Mijes Hannes fuhr mit seinem neuen Traktor auch nicht schneller als mit dem alten Pferdefuhrwerk. Sollte die moderne, mobile Welt hinter ihm doch hupen so viel sie wollte. An ihm kam keiner vorbei.
 
Weil Mijes Hannes ein freundlicher Mensch war, grüßte er alle, die er am Straßenrand sah. Sie grüßten ihn freundlich zurück und dachten sich ihr Teil. Nur für uns Jungen, die wir als Bauernsöhne mit 16 den Führerschein für Traktor und Moped hatten und nach dem Pflügen abends noch in die Disco wollten - für uns war Mias Hannes der personifizierte Zeitverlust. Hinter Mijes Hannes fahren zu müssen war eine Qual, und vorbei konnte man auch nicht, weil die Straße zu eng und zu unübersichtlich war.
 
„Es kommen auch noch mal andere Zeiten“ – das blieb sein Wort.  Als man wegen der Mähdrescher die Apfelbäume am Feldrand nach und nach abholzte, da hat er als guter lutherischer Kirchgänger noch sein Apfelbäumchen gepflanzt. Doch dann haben sie ihm den Apfelbaum umgesägt, und zwar ausgerechnet wegen der Kirche.
Natürlich war Mijes Hannes auch im Kirchenvorstand. Wenigstens in der Kirche sollte doch alles so bleiben wie es war. Nun aber war im Jahre 1969 der neue Pfarrer gekommen, einer von jenen jungen, modernen Theologen, die im Weltbild von Mijes Hannes gleich nach den Atheisten kamen.
Als nach zwei Jahren der Kirchenvorstand  über seine Berufung zum Stelleninhaber entscheiden sollte passierte es: In den drei Dörfern, die der Pfarrer zu versorgen hatte, war eines auf der Seite des alten Pfarrers und fuhr regelmäßig zu dem in den Gottesdienst an dessen neuer Wirkungsstätte, in dem anderen Dorf hatte der junge Pfarrer eine Mehrheit und das dritte war gespalten.
So ging auch die Abstimmung aus: Mit der Mehrheit von einer einzigen Stimme entschied sich der Kirchenvorstand gegen den neuen Pfarrer. Der musste die Pfarrstelle räumen und das Dorf verlassen. Die Wahl war zwar geheim, aber jeder wusste: diese eine Stimme, die den Ausschlag gab, das war die von Mijes Hannes.
Eine Woche später lag dann der Apfelbaum um. Einfach umgesägt in einer Nacht.  Ein Mord wäre kaum schlimmer gewesen, als dieser Frevel. Luthers sprichwörtliches  Apfelbäumchen -  einer modernen Säge zum Opfer gefallen.
 
Auch er selbst fiel bei der nächsten Kirchenvorstandswahl einem neuen Gesetz der Landeskirche zum Opfer. Keiner über 70 durfte mehr für den Kirchenvorstand kandidieren. Auch in der Kirche wollte man die dringend nötigen Veränderungen nicht ständig durch alte Pferdefuhrwerke blockiert haben.
Vielleicht  hätte er die Welt etwas anders gesehen, hätte er selber Kinder gehabt. Vielleicht  wäre darin ein wichtiger Impuls gewesen, sich auf die tiefgreifenden Veränderungen einzulassen und mit der nächsten Generation die neue Welt zu gestalten. Vielleicht  wäre das Klammern- und Beharren dann eher der Zuversicht gewichen, dass auch die neue, moderne Welt keine gottlose ist.
 Auch wenn man jetzt nicht mehr so viel vom Herrgott sprach, so kehrte derselbe doch als die Himmelsmacht der Liebe in die Sehnsüchte und Träume der nächsten Generation  zurück. Das Mysterium der Schöpfung, das Geheimnis der Liebe - manchmal auch das damit verbundene „ganz normale Chaos“ -  mit den guten Augen christlichen Glaubens  ist der dreieinige Gott so wirklich wie eh und je, oder genau genommen: noch wirklicher als wirklich.
 
Auch der Hof von Mijes Hannes hat  darin heute seinen Platz gefunden: Als schön restauriertes Fachwerkschmuckstück im alten Ortskern. Es ist zwar kein Stall mehr für Kühe und Pferde aber doch Wohnraum für Menschen. Die genießen in diesen Tagen ganz besonders die Früchte des neuen Apfelbaumes in der Mitte des Gartens.



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